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Millionen Optionen

  • henriettefraedrich
  • 20. Jan. 2015
  • 3 Min. Lesezeit

Es gibt ja so Momente, da denkt man, oh Gott, heute passiert bestimmt was. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Stern-Artikel, der vor Jahren erschien, und den schlimmen ICE-Unfall bei Eschede rekonstruierte. Hängen geblieben sind bei mir Sätze wie „Als Martha Müller um 08:15 zusammen mit ihrer dreijährigen Tochter in den Zug einsteigt, ahnte sie noch nicht, dass sie den heutigen Tag nicht überleben werden.“ Solche Sätze jagen mir Schauer über den Rücken. Man spielt in diesen Momenten irgendwie Gott. Man tut so, als wäre man dabei, und man will den Personen im Text als Leser zurufen: „Los, steigt aus!“ Aber es ist schon lange viel zu spät. Journalisten arbeiten zu gerne mit diesem Stilmittel.


In solchen Momenten frage ich mich oft, warum Menschen in so eine Katastrophe schlittern, und warum niemand sie daran hindern kann. Dann gibt es immer wieder Glückspilze, die ihren Zug verpassen, im ersten Moment Fluch, aber später ein wahrer Segen. Göttliche Fügung nennen es die einen. Schicksal die anderen. Und die unromantischen einfach Zufall.


Und ich frage mich, ob vielleicht doch irgendwo ein Gott oder anderer allwissender Futzi sitzt, der die Stricke in der Hand hält und für jeden einen Plan hat. Der so vor der Erde sitzt wie vor einer riesigen elektrischen Eisenbahn-Anlage. Der Züge und Menschen lenkt. Und aus Spaß es mal hier und da krachen lässt. Mein kleiner Sohn zum Beispiel liebt seine Eisenbahn. Und er liebt es, Unfälle zu inszenieren. "Mami, machen wir einen Unfall?" fragt er mich mit großen leuchtenden Augen. In mir das Mutter-Herz zerrissen, einereits seine Freude über das Crash-Boom-Bang. Andererseits der pädagogisch-moralische Anspruch, ihm erläutern zu müssen, dass Unfälle eine ziemlich beschissene Sache sind. Vor allem im Straßenverkehr. Eines seiner Lieblingslieder ist "Accidents happen", eine großartige Hymne ans Scheitern. Und jedes Mal, wenn er seine kleinen Holzloks entgleisen lässt, denke ich diesen Artikel aus dem stern, und an das tragische Unglück. Und daran, warum Menschen diese eine Option wählen (in den Zug einsteigen) und nicht die andere (Zug verpassen).


Die Mehrgleisigkeit der Millionen Optionen in unserem Leben lässt mich immer wieder staunen. Manchmal stehe ich auf der Straße und versuche, mein eigenes Schicksal auszutricksen. Ich entscheide mich für den einen Weg, und denke, wer weiß, was passiert wäre, wäre ich den anderen Weg gegangen. Würde ich den anderen Weg gehen, würde ich das selbe denken.


Das Blöde ist: Man kann nie prüfen, ob man sein Schicksal beschissen hat. Es gibt keine Möglichkeit, sich das Video von der nicht wahrgenommenen Möglichkeit rückblickend anzusehen. Vielleicht würde man sehen, wie man von einem Auto-Unfall überfahren wird und würde sich freuen, dass man so clever war, den anderen Weg zu gehen. Vielleicht würde man aber auch sehen, wie ein New Yorker Model-Agent einen anspricht und man daraufhin Giselle Bündchen Nummer Zwei wird. Und dann würde man sich vor Ärger in den Arsch beißen.


Man weiß nie, ob jede einzelne Entscheidung, die man trifft, Tag für Tag, richtig oder falsch war.


Nur beim Schwarzfahren, da weiß man es: Wird man nicht erwischt, freut man sich, keine unnötige Kohle für das Ticket ausgegeben zu haben. Wird man erwischt, weiß man, man hätte die 2,30 Euro besser mal in den Automaten schmeißen sollen. Aber das Leben ist nicht wie U-Bahn-Fahren, wo man nur zwei Optionen hat: Mit Ticket oder ohne Ticket. Millionen Optionen. Jeden Tag. Ein Wunder eigentlich, dass wir alles so entspannt sind. Ich finde das jedenfalls total irre. Da soll noch mal einer sagen, wir seien nicht entscheidungsfreudig. Wir entscheiden uns immer. Jede einzelne Sekunde.

 
 
 

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