DIE VIER IST ROT UND DER FREITAG IST GELB
- henriettefraedrich
- 20. Jan. 2014
- 6 Min. Lesezeit
Es gibt so Dinge und Eigenarten, die tun wir unser ganzes Leben lang, aber wir sind uns dessen kaum bewusst. Weil es schon immer so wahr. Man redet auch nicht darüber, wozu auch. Man nimmt es ja nicht als etwas Besonderes wahr, sondern geht davon aus, dass jeder diese Dinge tut. Ich rede ja auch nicht mit anderen Menschen darüber, dass sie eine Nase haben. Man hat halt eine Nase und basta. Muss man nicht weiter erötern, im sprichwörtlichen Sinne nicht der Rede Wert.
Und dann stolpert man in Büchern oder im Internet über Artikel oder Filmchen, die genau das thematisieren, was man jahrelang schon immer gemacht oder gefühlt hat. Und man denkt sich, he, Moment, das ist ja genau das, was ich immer tue, so geht es mir ja auch! Und plötzlich wird man sich seiner Macke, denn meistens ist es nichts anderes als das, schlagartig bewusst.
Und plötzlich wird man sich seiner Macke schlagartig bewusst.
So erging es mir zum Beispiel, als ich vor Jahren in Martin Suters grandiosem Buch "Der Teufel von Mailand" zum ersten Mal etwas über Synästhesie las. Synäste-Was? Ja, ging mir auch so. Noch nie zuvor gehört. Synästhesie ist ein interessantes Phänomen bei manchen Menschen, bei denen verschiedene Sinnesempfindungen miteinander gekoppelt sind. So können manche Menschen Formen spüren, Farben hören oder ordnen bestimmten Farben Gerüche zu. Den Variationen sind dabei keinerlei Grenzen gesetzt. Ich fand das beim Lesen höchst abenteuerlich und musste über die Textstellen, die die synästhetischen Empfindungen der Protagonistin beschrieben, immer mehrere Male lesen, zu verknotet war mir das alles. Und dann stellte ich plötzlich fest, ach du grüne Neuen, genau das hab´ ich ja auch!
Schon immer hatten Zahlen, die ich mir im Kopf vorstellte, eine ganz bestimmte Farbe. Buchstaben hingegen nicht. Die sind immer schwarz. Aber die Zahlen sehen bei mir so aus: Die Eins ist dunkelgrau. Die Zwei ist so beige-gelb. Die Drei ist popelgrün. Die Vier hat ein richtig tolles Rot. Die Fünf ist gelb. Die Sechs ist hellgrau. Die Sieben ist lila. Die Acht ist dunkelgrau, aber dunkler als die Eins. Die Neun ist braun. Und so gibt es eben Zahlen, die mag ich, und Zahlen, die mag ich einfach nicht. Die 54 ist zum Beispiel toll, weil die ist gelb-rot, und leuchtet. Die 69 hingegen ist iiih-bäh. Die ist nämlich grau-braun. Zahlen können also durchaus sympathisch oder eben unsympathisch sein.
Auch Wochentage sind immer automatisch mit einer Farbe verknüpft. Montag ist rot. Dienstag ist grün. Mittwoch ist braun. Donnerstag ist grau. Freitag ist gelb. Samstag ist hellgrau. Sonntag ist so mittelgrau.
Dass Zahlen in Farben wahrgenommen werden, gehört ganz klassisch zur Synästhesie. Ich bin also Synästhetikerin. Wie das klingt. Kicher. Als ich meinem Mann von meiner Entdeckung erzählt habe, schaute der mich leicht irritiert aber auch belustigt an. "Wie, Zahlen haben Farben? Das verstehe ich nicht." Er konnte sich darunter beim besten Willen nichts vorstellen. Erwischt man aber jemanden, der "das auch hat", ist derjenige ganz begeistert. "Jaaaa, ich habe das auch, ich kenne das auch!" Man ist deshalb so begeistert, weil man über so etwas nicht spricht. Ich sprach vor allem deshalb bisher mit niemandem darüber, weil ich immer dachte, dass das alle haben. Für mich ist unvorstellbar, dass Zahlen und Wochentage farblos sind.
Manchmal schreibt mir mein Mann Zahlen auf, und fragt mich, ob das schöne oder hässliche Zahlen sind - meist geht es dabei um den Preis für ein neues Produkt. Wäre Synästhetische Unternehmensberatung vielleicht ein neues Geschäftsfeld? Hm, eher nicht, denn jeder, der das Phänomen kennt, hat andere Farbzuordnungen.
Zahlen können durchaus sympathisch oder eben unsympathisch sein.
Oder haben Sie schon mal was von ASMR gehört? Das ist ein neuer Trend, ein Phänomen, das viele kennen und empfinden. Und jetzt lebt man es öffentlich aus. Was also ist ASMR? Vielleicht bleiben Sie spät abends auch immer bei diesen unsäglichen Shopping-Kanälen hängen und können einfach nicht wegzappen. Was nicht daran liegt, dass Ihnen die Produkte so gut gefallen, oder Sie die Präsentation der Verkaufskanal-Flitzpiepen so irre finden, nein, vielmehr schauen Sie einfach gerne zu, wie z.B. jemand jemand anderem die Haare kämmt oder föhnt. Oder Sie schauen gerne zu, wie die Verkäuferin Ihre Sachen in Papier einwickelt. Oder Sie hören gern hin, wenn jemand flüstert. Denn, was Sie dabei empfinden, ist so ein Gefühl auf und im Kopf, das sich kaum beschreiben lässt. Es ist so ein Kribbeln. Und das fühlt sich unsäglich entspannend und schön an. So können viele Leute, die "das haben", schon allein beim Zuschauen, wenn jemand anderes massiert wird, genauso mitentspannen. Viele der "ASMR-ler" beschreiben dieses Kribbeln als "Orgasmus im Kopf". Und die meisten sind süchtig danach. Die Auslöser für dieses Gefühl sind dabei höchst unterschiedlich.
Wenn Sie sich also auch immer gefragt haben, was dieses angenehme Kribbeln im/am Kopf ist, dass Sie in bestimmten Situationen empfinden, herzlich willkommen im Club! Auch ich hatte das schon immer, schon als Kind fand ich es toll, dabei zuzuschauen, wenn die anderen Mädchen sich gegenseitig die Haare kämmten. Das klingt irgendwie pervers, oder, ist es aber gar nicht. Es ist nur höchst kurios. Oder wenn jemand neben mir leise in einem Buch liest und umblättert, kommt dieses Gekribbel im Kopf auch. Crazy, oder? Haben Sie das auch? Jedenfalls war dieses Phänomen immer da, und ich habe mich nie wirklich gefragt, was das ist. Bis ich durch Zufall, oh happy Internet, mal über einen Bericht über den Trend von sogenannten ASMR-Videos bei Youtube gestoßen bin. Geben Sie mal bei Youtube das Stichwort ASMR ein - und Sie werden Tausende Videos angeboten bekommen. Es ist ein richtiger Boom, und offensichtlich gibt es ziemlich viele Menschen, die dieses Kopfkribbeln empfinden. Nur hat man eben bisher nicht wirklich darüber gesprochen. Als ich den Artikel las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. "Mönsch, das ist ja genau dieses undefinierbare Kribbeln, was ich auch immer habe!", dachte ich und war völlig aus dem Häuschen. Ich dachte immer, ich wäre die einzige, die das hat. Jedenfalls steht ASMR für "Autonomous Sensory Meridian Response", was das genau ist, und warum wieso weshalb es manche Menschen fühlen und manche nicht, ist aber noch völlig ungeklärt. Fakt ist aber, ziemlich viele Menschen kennen das. Liebe Wissenschaft, ich würde mal sagen, ran an den Speck, schaut euch das doch mal genauer an.
Ansonsten durchziehen meinen Alltag noch folgende weitere Macken:
Früher im Kindergarten konnte ich den Strich auf dem Boden nicht betreten. Das war einfach verboten. Also immer schön in die Mitter der Bodenplatte. Niemals auf den Strich. Vielleicht dachte ich, das Strichmonster würde mich dann packen und in die Tiefe ziehen. Ich weiß es nicht. Jedenfalls bin ich zumindest davon geheilt.
Da liegen drei Stück Käse und vier Tomaten auf Ihrem Teller, und schon fängt Ihr Hirn an zu zählen. Ganz automatisch. Sie können nichts dagegen machen.
Dann das "Sonst wird´s schief Phänomen": Ich kann nicht auf der einen Seite meines Körpers (oder bei jemandem anderen) etwas machen und auf der anderen Seite nicht. Wenn ich meinen Sohn aus Spaß in die eine Seite knuffe, muss das auch auf der anderen Seite sein. Weil, genau, sonst wird´s schief. Oder wenn ich meinem Mann einen dicken Kuss auf die eine Wange gebe, dann muss das auch auf der anderen Wange sein. Und wenn ich dort ein kleines bißchen länger geküsst habe, dann bekommt die andere Wange auch noch mal ein kleines Mini-Küsschen. Ich halte "Ungleichheit" einfach nicht aus. Das macht mich ganz kirre.
Oder kennen Sie das Phänomen, immer alles zählen zu müssen? Da liegen drei Stück Käse und vier Tomaten auf Ihrem Teller, und schon fängt Ihr Hirn an zu zählen. Ganz automatisch. Sie können nichts dagegen machen.
Oder kennen Sie das Phänomen vom "Worte auswaschen"? Sagen Sie sich mal irgendein Wort immer wieder laut vor. Egal, welches Wort. Stuhl, Tisch, Blumenvase, Schinken, Messestand, Wickelkommode, ganz egal. Und dann sagen Sie das Wort immer und immer wieder. Merken Sie was? Das Wort, so vertraut und selbstverständlich, klingt immer komischer und fühlt sich immer komischer an, je mehr man es sich vorsagt. Es verliert plötzlich seine Bedeutung. Sie wissen plötzlich nicht mehr, was "Stuhl" bedeutet. Und sind ganz kirre im Kopf. Als wäre die Beudeutung durch das ständige Wiederholen aushgewaschen oder weggelutscht. Probieren Sie´s mal aus, es ist echt verrückt.
Jedenfalls hab ich manchmal das Gefühl, ich bin ich eine einzige Macke. Sollte mich das beunruhigen?
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